Frankreich: Eingesperrt und alleingelassen

Kommentar

Das sonst so pulsierende Paris wirkt angesichts der Corona-Maßnahmen wie ausgestorben. Bars, Cafés, Restaurants und alles andere ist geschlossen, hinter den Fenstern stapeln sich die leeren Stühle. Nur vor Supermärkten, Bäckereien, Metzgereien und Apotheken stehen lange Schlangen, in einem Abstand von mindestens einem Meter.

Es beginnt zu blühen an allen Ecken, eine milde Sonne taucht die Boulevards in warmes Licht. Der Frühlingsanfang lockt. Normalerweise würde er Paris aus dem Winterschlaf reißen: Voll, lebendig und laut wäre es auf den Terrassen der Cafés und Bars, bei einem Café au lait oder einem Apéritif würden die Menschen in der Sonne sitzen, reden, lachen – bevor es abends in eines der vielen und in der Regel sehr guten Restaurants der Stadt gehen würde, von rustikal bis fein, typisch à la française bis exotisch aus allen Weltregionen. Jetzt ist diese sonst so pulsierende Stadt ausgestorben, leergefegt. Bars, Cafés, Restaurants und alles andere ist geschlossen, hinter den Fenstern stapeln sich die leeren Stühle. Nur vor Supermärkten, Bäckereien, Metzgereien und Apotheken stehen lange Schlangen, in einem Abstand von mindestens einem Meter.

Es herrscht strikte Ausgangsperre in Frankreich. Seit Dienstagmittag der vergangenen Woche. Das Haus verlassen darf nur, wer einen entsprechenden Vordruck ausfüllt und unterschreibt und außerhalb seiner Wohnung immer mit sich führt. Fünf Ausnahmen gelten für die Ausgangssperre: Wer zwingend arbeiten gehen muss, weil er keine Möglichkeit zur Telearbeit und gerade in diesen Zeiten in dringend notwendigen Berufen arbeitet, wer einkaufen geht, wer zum Arzt oder ins Krankenhaus muss, wer sich zwingend um Angehörige kümmern muss – oder auch wer etwas Sport im Umfeld der eigenen Wohnung treiben will oder mit dem Hund einmal raus muss. Der Ausnahmefall sportliche Aktivitäten wurde schnell eingeschränkt: Fröhlich pilgerten viele noch an die Strände am Mittelmeer oder fuhren in in nahegelegene Wälder und Erholungsgebiete. Jetzt sind die meisten Strände gesperrt, auch viele Wälder und Wanderstrecken. Gejoggt werden darf nur noch im Umfeld von 1 bis maximal 2 Kilometer von der Wohnung, Fahrradfahren wurde mittlerweile untersagt. Das könnte noch weitergehen: In Italien wird derzeit das Verbot aller sportlichen Betätigungen außerhalb der Wohnung erwogen. Über 100.000 Polizisten und Sicherheitskräfte sind auf den Straßen, um die Ausgangssperre durchzusetzen. In nicht einmal einer Woche wurden im ganzen Land 867 695 Kontrollen durchgeführt und 38 994 Strafen verhängt, mit 135 Euro Bußgeld.

Von Paris aus wirken die Bilder bizarr, die derzeit noch von Berlin zu sehen sind: Die Menschen sind noch munter auf den Straßen unterwegs, selbst Restaurants samt ihren Terrassen sind tagsüber geöffnet. Währenddessen könnte das Nachbarland Frankreich zu einem zweiten Italien werden, die drastisch ansteigenden Kurven von mit dem Coronavirus Infizierten, den Menschen, die schwer krank in den Beatmungsanlagen liegen sowie den bereits daran gestorben ähneln sich zu sehr, nur mit einer zeitlichen Verzögerung: 12.612 Menschen gelten als infiziert. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein, da nur noch akute Fälle getestet werden. 5226 Menschen liegen bereits in den Krankenhäusern, 1297 werden dort mit viel Aufwand künstlich beatmet, die Hälfte davon ist unter 60 Jahre alt. 450 Menschen sind dem Virus bereits zum Opfer gefallen. Jeden Tag schnellen diese Zahlen weiter nach oben. Im ganzen Land mangelt es an Masken, insbesondere für diejenigen, die in Krankenhäusern und auch Altenheimen arbeiten. Dramatisch ist die Situation vor allem in der Region Grand Est, die das Elsass, Lothringen und die Champagne umfasst. Insbesondere im Elsass sind die Kliniken komplett überlastet, die Armee baut dort jetzt ein Feldlazarett und fliegt schwere Krankheitsfälle in andere Kliniken des Landes, wie in den Süden nach Toulon. In Mulhouse hatte eine religiöse Zusammenkunft von Evangelikalen im Februar 2000 Menschen eine Woche zum gemeinsamem Beten und Fasten zusammengebracht – und von dort aus wurde der Virus schnell in der Region weitergetragen.

Erschreckend schnell und deutlich war es in der letzten Woche vorbei, mit der sonst so gerne und viel beschworenen deutsch-französischen Partnerschaft – ganz zu schweigen von Freundschaft. Nichts bleibt übrig von den gerne zelebrierten Sonntagsreden und feierlich verabschiedeten Verträgen wie dem Aachener Vertrag, der übrigens für kriegerische Konflikte eine komplette Beistandspflicht zwischen beiden Ländern vorsieht. Statt der Region Elsass zur Hilfe zu eilen, für die dramatische Situation dort Unterstützung anzubieten, schloss Deutschland einseitig die Grenzen. Im Fernsehen hier in Frankreich war zu sehen, wie die Menschen von französischer Seite gestoppt und zurückgeschickt wurden, während man von deutscher Seite weiter ungehindert nach Frankreich konnte. Ein verheerendes Signal in dieser Lage. Wie hätten in diesen Zeiten stattdessen Bilder wirken können von Lastwagen mit medizinischem Material und Bussen mit Ärzten, die von deutscher Seite ihren französischen Kolleginnen und Kollegen zur Hilfe eilen in dieser Notsituation, und von Krankentransporten in die noch mit Kapazitäten ausgestatteten Kliniken jenseits des Rheins, um zumindest für einen kurzen Zeitraum im Elsass etwas Entlastung zu schaffen? Von Supermärkten, die französische Kunden willkommen heißen und zügig die dafür nötigen Hygiene-Maßnahmen umsetzen, mit einer Begrenzung der Menschen im Verkaufsraum und dem Mindestabstand bei den Schlangen davor? Dafür könnte Deutschland, das aller Wahrscheinlichkeit nach den Höhepunkt der Epidemie später treffen wird, von den Erfahrungen der französischen und auch italienischen Kolleginnen und Kollegen im Kampf gegen den Coronavirus profitieren. So wie sich Italien jetzt chinesische Mediziner ins Land holt. Das könnte ein Moment sein, den Wert der und die Bedeutung der deutsch-französischen Partnerschaft deutlich zu machen. Könnte.

Paris, am Freitag vor einer Woche – das war noch in einer anderen Epoche. Präsident Macron hatte am Abend zuvor eine ernste Rede an die Nation gehalten. Er kündigte die Schließung aller Kindergärten, Schulen und Universitäten an, versprach Hilfen für die Wirtschaft an und ermahnte die Französinnen und Franzosen, sich die Hände zu waschen und Abstand voneinander zu halten. Was an sich schon keine leichte Übung ist in einem Land, in dem man sich sonst mit zwei und je nach Region noch mehr Küsschen auf die Wange begrüßt. Und der kühle Handschlag einen hier bislang schnell als Deutschen demaskierte. Selbst der sollte jetzt aber nicht mehr sein. Die Rentenreform, die monatelang das Land zerrissen und mit Streiks lahmgelegt hatten, legte der französische Präsident dabei flugs erst einmal auf Eis. Entgegen einiger Erwartungen kündigte Macron aber an, dass die landesweiten Kommunalwahlen noch durchgeführt werden sollten. Folglich ging das Leben zunächst wie gewohnt weiter, fröhlich und ausgelassen saßen die Pariserinnen und Pariser dicht gedrängt am Freitagabend in den Cafés und Bars der Stadt und drängten sich zwischen den Markständen auf den Boulevards: So schlimm kann es wohl nicht sein, wenn wir noch wählen gehen können und sollen. Das ging Premierminister Philipp aber dann doch zu weit. Am Samstag verkündete dieser die Schließung aller Café, Bars, Restaurants und sonstiger Geschäfte außer dem Lebensmittelhandel und Apotheken ab Mitternacht. Gewählt wurde aber trotzdem noch am Sonntag, wenn auch mit Sicherheitsabstand und Desinfektionsmitteln in jedem Wahllokal. Allerdings gingen dann 54,5 Prozent der Wahlberechtigen lieber doch nicht hin, 18 Prozent mehr als beim letzten Mal – ein historischer hoher Wert. Trotz der so besonderen Umstände wirkte offenkundig noch die Dynamik in den Wochen zuvor und konnten die französischen Grünen als eine der großen Gewinner aus diesen Wahlen hervorgehen: In Städten wie Straßburg, Lyon, Rouen, Bordeaux, Besançon, Rennes, Lilles und Metz kamen sie auf den ersten oder zweiten Platz - und damit eigentlich in hervorragende Ausganspositionen für den zweiten Wahldurchgang, der in all diesen Kommunen nötig sein wird. Allerdings sind sie vor allem in Städten auf einem der ersten beiden Plätze, wo ein zweiter Wahlgang nötig sein wird. In über 30.000 der rund 35.000 Kommunen, meist kleinere Städte und Dörfer, bekam bereits im ersten Durchgang eine Liste über 50 Prozent – und damit einen Gemeinderat und Bürgermeisterin oder Bürgermeister. In knapp 5000 Kommunen muss noch einmal gewählt werden, was eigentlich jetzt stattfinden sollte, am 22. März.  

 

Nur änderte sich die Situation sehr rasant nach dieser Schein-Normalität des Wahlsonntags: In seiner zweiten Rede an die Nation in nur vier Tagen spracht Präsident Emmanuel Macron am Montagabend bereits von einem „Krieg“ gegen einen unsichtbaren Feind, sagte den zweiten Durchgang der Kommunalwahlen ab – und verhängte schon für den darauffolgenden Dienstagmittag die allgemeine Ausgangssperre für zunächst zwei Wochen. Die viel zu kurze Frist bis zum Beginn der Ausgangssperre führte dazu, dass sich die Menschen in Zügen und U-Bahnen drängelten, um zu den Orten zu gelangen, wo sie die erwartbar deutlich längere Zeit des Hausarrests überstehen wollen. Die Französinnen und Franzosen, die darüber verfügen und deren Job ein Homeoffice erlaubt, versuchten noch schnell, in ihre Land- und Urlaubshäuser zu gelangen. Trotzt dieses anfänglichen Zickzackkurses zeigen sich gegenwärtig rund 54 Prozent zufrieden mit dem Krisenmanagement der Regierung - ein erstaunlicher Wert angesichts der Unpopularität von Emmanuel Macron und seinen Ministerinnen und Ministern in den Wochen zuvor.   

Jetzt steht in Frankreich das erste Wochenende an, das zwangsweise Zuhause verbracht werden muss. Schon mehren sich die Berichte darüber, was diese Ausgangssperre für Menschen bedeutet, die alleine sind und leben, umso mehr, wenn sie älter sind und allgemein nicht bei bester Gesundheit. Die häusliche Gewalt, insbesondere gegen Frauen, nimmt zu. In den Medien erklären Psychologen, wie Paare und Familien das gemeinsame 24-Stunden eingesperrt sein halbwegs gut überstehen können. Offenkundig sind die Scheidungsraten in den Regionen in China, in denen über Wochen eine strikte Ausgangssperre herrschte, stark angestiegen. Fitnesstrainer geben Tipps für ein tägliches Sportprogramm in den eigenen vier Wänden. Besonders schwierig ist es für all jene, die durch die Schließung von Cafés, Restaurants und Geschäften oder weil sie allgemein frei arbeiten, etwa im Kulturbereich, nun um ihre berufliche Existenz fürchten müssen und vor der Frage stehen, von was sie nun in den nächsten Monaten leben sollen.

Schnell haben sich, oft nach italienischem Vorbild, nun auch zahlreiche Initiativen gebildet, viele davon über die sozialen Medien: Es gibt Nachbarschaftshilfen für den Einkauf für diejenigen, die es nicht können. Studierende bieten Unterricht für all die Schüler an, die jetzt zu Hause sitzen. Man und frau verabreden sich zum gemeinsamen Aperitif per Skype – und jeden Abend um 20:00 Uhr steht das ganze Land an den Fenstern und auf den Balkonen und applaudiert all denen, die in den Krankenhäusern gerade alles geben, um der so schnell wachsenden Zahl schwer Erkrankter unter immer extremeren Bedingungen zu helfen.

Ergänzung aus aktuellem Anlass:

In der Zwischenzeit haben sich Baden-Württemberg, das Saarland und Rheinland-Pfalz zur Aufnahme von schwerstkranken Patienten aus dem Elsass bereit erklärt, wie auch Luxemburg und die Schweiz. Damit können Menschenleben gerettet werden angesichts der dramatischen Lage in den Kliniken in der Region Grand Est. Es ist gerade in dieser Zeit auch ein sehr wichtiges Signal europäischer Partnerschaft und Zusammengehörigkeit der Nachbarn, allen voran von Deutschland – auch wenn es sich bislang um eine sehr überschaubare Zahl von Behandlungsplätzen handelt, die angeboten wurden. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat darauf mit einem „Merci à nos voisins européens“, einem „Dank an unsere europäischen Nachbarn“ reagiert und hinzugefügt, die europäische Solidarität rette Leben. Es bleibt zu hoffen, dass es von solchen Zeichen europäischer Solidarität in den kommenden Tagen und Wochen deutlich mehr statt weniger geben wird.

Dieser Beitrag ist zuerst auf der Website unseres Pariser Büros erschienen.